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84. Tour de France 1997 |
Jan Ullrich gewinnt als erster Deutscher die Tour de France
Die Chronik des Triumphs
Vor dem Tourstart:
L'Equipe vergibt fünf Sterne an Jan Ullrich, aber nur vier
an Olano und Riis. Die Einstufung des Deutschen als Topfavoriten
verursacht gewisse Irritationen im Team Telekom, wo ja immer noch
Riis der Kapitän ist.
Im
Prolog fährt Jan Ullrich, auf die Minute in Topform,
beinahe aus Versehen ins Maillot Jaune. Glück für ihn und das Team
Telekom, daß Chris "Mr. Prolog" Boardman noch ein Sekündchen
oder so schneller war. Nicht nur daß Telekom mit einem Ullrich in
Gelb viele Kräfte schon am Anfang hätte vergeuden müssen. Kaum
auszudenken, was die deutsche
Boulevard-Presse dann geschrieben hätte- wie hätte man es auch
einem Nicht-Radsportler vermitteln können, daß für jemanden, der
aufs Klassement fährt, das Gelbe jetzt bei den Flachetappen noch
eher lästig ist. Problematisch genug ist die Situation jetzt auch so
schon für
Telekom: Ullrich liegt jetzt (nach der
1. Etappe!!!)
fast 1 Minute vor seinem Kapitän Riis. Auch wenn die beiden nun
wahrlich keine Streithähne sind wie einst Chiappucci und Pantani
oder Berzin und Ugrumov, eine heikle Situation ist es dennoch.
Tour: Eine heikle Situation für Telekom... Im
Telekom-Team brodelt es nach dem Rückstand von Kapitän Riis auf
"Leutnant" Ullrich. Riis, der eine Minute im Chaos des Massensturzes
11km vor dem Ziel der
1. Etappe
auf die Spitze, vor allem aber auf Ullrich verloren hatte in erster
Erregung über seine Telekom-Mitstreiter Bölts, Heppner und
Totschnig: "Sie hätten auf mich warten und mich wieder nach vorne
fahren müssen". Riis hielt sich nach einer internen Aussprache
jedoch mit öffentlicher Kritik zurück. Vom "Umfeld", wie das wohl
beim Fußball heißen würde, kommt jedoch auch Kritik an Riis. Didi
Thurau: "Er ist schließlich mit 33 Jahren alt und erfahren
genug. Wenn er auf den Gesamtsieg fährt, muß er wissen, daß er sich
auf den Flachetappen unter den ersten 20 bis 25 Fahrern an der
Spitze aufhalten muß. Denn dort geschehen die wenigsten Stürze." Und
Rudi Altig:"Dahinten hinein gehören die Wasserträger und
nicht die Favoriten hin." Für Thurau hat das Ganze viel größere
Auswirkungen als die eine Minute, es war die Vorentscheidung bei der
ersten Etappe... O-Ton Thurau: "Nicht Riis, sondern Jan Ullrich
gewinnt die Tour." Ullrich scheint jedoch auf dem Boden der
Tatsachen zu bleiben. Schon nachdem L'Equipe ihn mit 5
Sternen als den Topfavoriten der Tour noch vor Riis und Olano sah,
reagierte Ullrich gelassen: "Man will uns gegeneinander ausspielen,
das ist klar." Gut, daß Jan Ullrich einen Manager wie Wolfgang
Strohband hat, der nicht müde wird zu betonen, "der Bursche ist
noch in der Aufbauphase" und der solle nur ja "kein Matthäus"
werden...
Französischer Nationalfeiertag und Quelle Etape!!!. Die
9.
Etappe, die erste Bergetappe war nicht nur eine der
schönsten und spannendsten Etappen der Tourgeschichte, sie
beantwortete auch einige Fragen: So z.B. wissen wir jetzt: Erik
Zabel kann wirklich auch große Berge relativ locker fahren, und
wir wissen: Marco Pantani ist zurück! Richard Virenque
und sein Festina-Team ist so stark wie letztes Jahr, Jan Ullrich
ist stärker als letztes Jahr. Fernando Escartin wird am Ende
wohl unter die Top 10 fahren. Laurent Jalabert wohl kaum,
Luc Leblanc erst recht nicht. Und neue Fragen tauchen auf: Wie
stark ist nun Bjarne Riis wirklich ? Und Abraham Olano
? Die super-schwere
10. Etappe
nach Andorra wird sicher einige Antworten bereit haben. Auch auf
diese: Fährt Jan Ullrich jetzt ins Gelbe ??? Was dann aber
auch wieder eine ganze Reihe neuer Fragen aufwerfen würde.....
Stimmen zur
9. Etappe
Telekom-Teamchef Walter Godefroot: ""Jan war heute
eindeutig besser als Bjarne, aber das ändert nach wie vor nichts an
unserer Mannschaftstaktik. Wir müssen abwarten, wie es morgen läuft.
Wie geplant werden wir uns in St. Etienne alle zusammensetzen"
Bjarne Riis:"Jan mußte heute vorne mitfahren. Mir ging es
heute nicht so gut. Aber die Tour ist ja noch lang."
Telekom-Vizechef Rudy Pevenage: "Die mehrfachen Antritte
von Richard Virenque haben Bjarne Riis kaputt gemacht. Bjarne kann
morgen aber schon wieder ganz anders fahren. Über einen möglichen
Wechsel der Nummer eins werden wir erst in St. Etienne entscheiden."
Jan Ullrich: "Bjarne bleibt unser Kapitän. Die Tour hat
heute doch gerade erst angefangen." - Und: " Ich hatte heute einen
sehr guten Tag, meine Beine waren überhaupt nicht schwer. Ich bin
nicht auf Gelb oder Tagessieg gefahren, ich wollte nur Virenque
nicht ziehen lassen"
Der Reporter des französischen TV über Jan: "Wie früher
Indurain!"
15.07.97 -
10.
Etappe der Tour de France.

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"Berglöwe Jan fraß alle auf."
--EXPRESS
"Ullrich macht Deutschland zum Radsportland"
--taz
"Impresionate Ullrich"
-- Marca
"Ullrich - l'heritier magnifique, der große Erbe"
--Reuter France
"Es ist der blanke Wahnsinn."
--Peter Becker, Trainer/Betreuer von Jan |
Man ahnte es ja, aber es ist trotzdem unglaublich: Jan Ullrich
holte sich gestern als neunter Deutscher überhaupt und als erster
nach Klaus-Peter Thaler (1978) das Gelbe Trikot. Didi
Thurau, der es selbst vor 20 Jahren einmal 15 Tage lang getragen
und Deutschland damals radsport-verrückt gemacht hatte, schwärmte:
"Ich glaub, daß wir den ersten deutschen Tour-Sieger gesehen haben."
Im Telekom-Team ist jetzt auch alles klar. Rudy Pevenage:
"Die Entscheidung ist gefallen. Ich habe zwar nicht damit gerechnet,
daß es schon heute passiert, aber jetzt fährt das Team für Ullrich."
Bjarne Riis zeigt eine beachtliche Größe in einer für ihn
nicht gerade einfachen Situation: "Jan hatte heute eine unglaubliche
Form, da war es logisch, daß er attackieren mußte. Für uns ist es
wichtig, daß wir jetzt das Gelbe Trikot haben. Die Tour kann man nur
im Team gewinnen."
Neun Kilometer vor der Bergankunft in Andorra erhielt der
Deutsche Meister von Telekom-Teamleiter Walter Godefroot das
OK: Er war von den Pflichten, Riis zu helfen, enthoben und durfte
zum ersten Mal auf eigene Rechnung fahren "Ich bin so kaputt, und
ich bin erst einmal unheimlich froh über das Trikot. An Paris denke
ich noch nicht. Da kommen noch die schlimmen Alpen- Etappen und
weitere schwere Tage", so Ullrich im Ziel. "Als wir in die
Schlußsteigung eingefahren sind, habe ich mit Bjarne gesprochen und
er sagte, er fühle sich eigentlich ganz gut. Ich hatte wie gestern
auch wieder gute Beine und habe einfach attackiert. Als ich mich
dann umsah und registrierte, daß keiner mitkam, habe ich weiter
forciert. Unser Teamchef Walter Godefroot kam dann mit dem Wagen zu
mir und hat gesagt: Dreh Dich nicht mehr um und fahr."
Wie der 23jährige auf der schwersten Pyrenäen-Etappe agierte, wie
leicht und locker er die steilsten Rampen nahm, das nötigte allen
Mitstreitern Respekt ab. Er ließ alle Favoriten hinter sich. Weder
Marco Pantani, dem gleichwohl ein prächtiges Comeback gelang, noch
Richard Virenque konnten folgen. Es war eine Niederlage der
Kletterer, Ullrich beherrschte die Etappe ganz kühl im Stile eines
Indurain. "Ullrich war der Stärkste,", sagte Marco Pantani. Und
Virenque. "Es war wirklich ein großer Ullrich, den wir heute gesehen
haben."
[Zitate: dpa, AFP, Reuter]
Europa's Zeitungen feierten am Mittwoch darauf Jan
Ullrichs Triumph von
Andorra:
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L'Equipe "Der neue Riese...Er ist erst 23 Jahre
alt, aber er hat bereits alle seine Gegner geschafft."
Le Figaro: "Kaiserlicher Ullrich. Er ist von nun
an der große Favorit des Wettbewerbes."
Le Parisien: "Ullrich der Erste ist neuer König
der Tour. Ein Phänomen am Gipfel der Tour. Jan Ullrich hat auf dem
Anstieg nach Andorra-Arcalis im Finale ein Festival gefeiert."
France-Soir: "Salut l'empereur - Salut dem
Kaiser. Jan Ullrich, der deutsche Champion, hat die Macht
übernommen. Sein Traum: als erster Deutscher die Tour zu
gewinnen."
Sport, Spanien "El nuevo Indurain"
Posten, Dänemark: "Riis hat seinen Meister
gefunden. Die 10. Etappe nach Andorra wurde eine Stunde der
Wahrheit für Bjarne Riis. Aber er hat seinen Traum vom Tour-Sieg
noch nicht aufgegeben."
Politiken, Dänemark: "Riis mußte sich dem neuen
Telekom-Kometen beugen."
Corriere della Sera: "Im Juli 91 begann die Ära
Indurain, mit fünf aufeinanderfolgenden Siegen... In Andorra
könnte die Ära von Jan Ullrich angebrochen sein, die aufgrund
seiner jungen Jahre um vieles länger werden können."
La Repubblica: "Ullrich war mehr als ein
Radrennfahrer. Wir stellen uns die Frage: Wird Ullrich siegen oder
wird er haushoch gewinnen?"
Der Außerirdische! 1.16:24... "Wie Indurain in seinen
besten Tagen" (Marca) hat Jan Ullrich den besten Rennfahrern der
Welt drei Minuten beim schweren
Bergzeitfahren von St. Etienne abgenommen. Die Dimensionen, in
denen Jan Rad fährt, kann man kaum noch mit Worten beschreiben. Die
Ergebnisse etwa von Bjarne Riis (1.19:32) und Abraham
Olano (1.19:38) zeigen, daß die Konkurrenz nicht schwach,
sondern Ullrich so stark ist. Und als Jan dann auch noch im Ziel
beiläufig sagte, er fühle sich eigentlich gar nicht topfit, sei ein
wenig erkältet, da dürfte der Konkurrenz nun vollends angst und
bange geworden sein. Bemerkenswert fuhren auch die "Gebirgsjäger"
Marco Pantani (1.20:06) und Richard Virenque (1.19:28),
denen eine solche Leistung bei einem Zeitfahren vorher kaum
zugetraut worden war.
Marco Pantani der König von
L'Alpe
d'Huez, Jan Ullrich der Kaiser der Tour. Pantani und
Ullrich waren auf den mystischen 21 Serpentinen von Alpe d'Huez eine
Klasse für sich. Nicht nur die Italiener unter den 500.000
Zuschauern waren aus dem Häuschen, als Marco Pantani auf den letzten
13,8 km der Etappe angriff. "Elefantino", erst Anfang des Jahres von
seinem schrecklichen Unfall von Mailand-Turin im Oktober 1995
wiedergenesen und der dann beim
Giro
wieder so viel Pech hatte (s.
News vom
25.05.97) ist wieder da! "Es hat sich viel geändert seit damals,
aber was gleich geblieben ist, ist der Pantani, der heute als Erster
ins Ziel kam," sagte Pantani im Ziel.
Ullrich konnte folgen, aber: "Jan hat sich noch Reserven für die
schweren Alpen-Etappen
morgen
und
übermorgen gelassen. Der Etappensieg war für uns heute nicht das
Wichtigste", sagte Telekom-Teamchef Walter Godefroot.
"Pantani war heute sehr stark. Ich bin froh über den zweiten Platz.
Die vielen Zuschauer haben uns förmlich hochgeschrieen, man mußte
nur aufpassen, nicht zu stürzen" kommentierte Ullrich seine erste
Alpe d'Huez-Erfahrung.
Schwierigkeiten hatte jedoch Richard Virenque, der sich
vor der Etappe noch sehr kämpferisch gezeigt und eine große Attacke
angekündigt hatte. Rolf Järmann (Casino), bekanntlich nicht gerade
der beste Freund von Virenque, schrieb in seinem
Online-Tagebuch vor der Etappe: "Und die super Leistung, die Jan
Ullrich geboten hat, mag ich ihm von Herzen gönnen. Ich hoffe, er
lässt nun Virenque wie bisher ein wenig vor ihm herumzappeln, um ihm
dann nochmals eine saftige Zeitrechnung zu präsentieren." Vielleicht
nicht saftig, aber immerhin waren es am Ende 40 weitere Sekunden.
Ein ausgezeichnetes Rennen fuhr Udo Bölts, der ja gar nicht
einmal im Vollbesitz seiner Kräfte ist --und trotzdem Rang 7 errang.
Unterdessen hat man bei der Teamleitung von
Telekom
die Zeichen der Zeit erkannt: "Es ist doch logisch, daß wir schon
jetzt über Verlängerung reden und dabei auch anbieten könnten, den
Finanzrahmen der bestehenden Verträge anzuheben," sagte
Team-Pressesprecher Tilman Falt. Toursieg oder nicht - schon
heute gilt als sicher, daß Ullrich seine Bezüge für 1998 auf
mindestens eine Million Mark (ohne Prämien und Werbung) fast
verdoppeln wird. Sein bisheriges Jahresgehalt liegt bei 600.000
Mark.[dpa, Reuters]
Nach der
ersten
großen Alpenetappe, die sicher eine der aufregendsten und
spannendsten Etappen war, die je im Fernsehen übertragen wurde, hat
Jan Ullrich weiterhin das Maillot Jaune und seinen Vorsprung
gegenüber allen Verfolgern außer Virenque ausgebaut --und
Deutschland wird tatsächlich so allmählich "zum Radsportland" (taz).
Beim Siegerinterview in Courchevel war neben dem ARD-Mikrofon eine
ganze Batterie von Mikrofonen, darunter auch die von RTL und SAT.1,
die ja nicht unbedingt als Förderer von Randsportarten bekannt sind.
Jan's Leistung heute war (wieder) fabelhaft. Vor allem auch
taktisch. Bei der Abfahrt vom Col du Glandon, als Virenque mit
seinem Festina-Team auf und davon ging, blieb Ullrich ganz ruhig,
wartete auf Riis und fuhr locker wieder an die Spitze heran. Eine
taktische Glanzleistung. Und von seiner Leistung, wie er den letzten
Anstieg nach Courchevel zusammen mit Virenque hochflog, da wollen
wir gar nicht drüber reden. Vom feinsten. Ganz am Schluß setzte Jan
dann noch mal einen drauf: er zeigte die Größe eines wahren
Champions, als er Virenque kampflos den Tagessieg überließ. "Ich bin
kein Kannibale" meinte er nachher im Ziel.
21.07.97 -
15. Etappe
- Der Bluff des Jahres geht auf... Im Oktober 1996 ließ sich
Johan Museeuw über die Presse vernehmen, er fühle sich ganz
schlecht, er werde wahrscheinlich seine Laufbahn beenden. Drei Tage
später wurde er in Lugano Weltmeister. Ein ähnlicher Bluff gelang
heute Marco "Elefantino" Pantani. In den Abendnachrichten der
RAI am Sonntagabend hieß es, Marco werde wegen einer Bronchitis wohl
die Tour beenden müssen. Pantani: "Ich kann nicht richtig atmen.
Schon in
Alp d'Huez habe ich mich nicht gut gefühlt. Wenn es nicht besser
wird, werde ich wohl aus der Tour aussteigen müssen." Keine 24
Stunden später gewinnt er in Morzine die ganz schwere 15. Etappe.
Jan Ullrich fährt weiter in
Gelb,
er ließ den zweiplazierten Virenque nicht aus den Augen. "Ich kann
fahren wie ich will, wenn ich mich umdrehe, ist Ullrich hinter mir",
meinte Richard Virenque im Ziel. Jan und Richard haben in den
letzten zwei Wochen inzwischen soviel Zeit miteinander verbracht,
daß Virenques Frau Stephanie bzw. Jans Freundin Gabi ja fast schon
eifersüchtig werden dürften.
24.07.97 - Jan UIlrich, ein Dreiundzwanzigjähriger mit
Sommersprossen und Maillot Jaune wird von seiner vor Freude
weinenden Mutter im Ziel erwartet... Das sind Bilder, auf die die
nach Human Interest hungrigen Medien gewartet haben. Der
EXPRESS schreibt:
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Gefühle einer Mutter: "Seit Weihnachten habe ich Jan nicht
mehr gesehen", so Marianne Kaatz, "in dem Moment da oben sind
Druck und Streß von mir abgefallen, und da mußten die Tränen
einfach raus."
In Colmar hatte sie auf ihren "Buttje" gewartet, die Mutter
von Jan Ullrich, ebenso wie seine Freundin |
Gaby Weiß und 200 Freunde aus Merdingen. Und dann durfte sie ganz
nah ans Siegerpodest heran, wo sonst nur Ehrengäste, Sponsoren und
Presseleute was zu suchen haben. Und dann kam ihr Jan auf sie zu,
sie fielen sich in die Arme - Mama gratulierte, und die Tränen
flossen. Auch der Sohnemann stand mit einem Kloß in der Kehle da.
"Als ich meine Mutter umarmte, konnte ich nichts sagen außer
,danke`", verriet der Tour-Held kurz danach. Er hoffte, wenigstens
abends "einige stille Minuten zusammen mit meiner Familie zu haben".
Die scheint Jan auch bitter nötig zu haben. "Der Junge wird durch
das ganze Drumrum inzwischen verrückt", klagte seine Mutter, "er hat
mich am Telefon sogar schon angeschrien. Ich bin froh, daß das Ganze
nur noch eine halbe Woche dauert, ich weiß nicht, was sonst noch
passieren könnte."
Sorgen macht sich Marianne Kaatz auch um die Erkältung ihres
Sohnes: "Mir ist egal, auf welchen Platz Jan fährt, Hauptsache, er
bleibt gesund." Sie hätte genau wie Gaby Verständnis dafür, wenn er
im schlimmsten Falle sogar aufgeben würde. Tun wird er es nicht, das
weiß auch Gaby, die ihren Jan besser kennt als alle anderen, obwohl
er inzwischen immer mehr von sich preisgeben muß. "Ich bin sehr
abergläubisch", gesteht er zum Beispiel, "deshalb bekreuzige ich
mich auch vor jedem Start. Mit Religion hat das nichts zu tun." Gaby
zuliebe wird er sich vielleicht doch taufen lassen, denn die möchte
kirchlich heiraten. [Express, Foto: Bongarts]
18.
Etappe: "Reiß dich zusammen, du Sau!"
"Man muß auch mal knallharte Worte bringen," erklärte
Telekom-Sprinterkönig Erik Zabel. "Das hilft unter Teamkollegen und
kann den anderen auch aufbauen." Gemeint war Udo Bölts. Denn der
hatte als Adjutant die "Frechheit" besessen, am Thron des
Tour-Königs zu rütteln. Er hatte Spitzenreiter Jan Ullrich auf der
18. Etappe nach Montbéliard mit folgenden Worten zusammengestaucht:
"Reiß dich zusammen, du Sau!" Der 30jährige Bölts ergänzte dann: "So
ein junger Spund wie Jan muß sich auch von einem Älteren was sagen
lassen."
Und dieser 23jährige Jan war abends nicht etwa beleidigt, sondern
bedankte sich am Donnerstag beim Abendessen im Mannschaftshotel
"Campanile" zum einen bei seinem hervorragend arbeitenden Team und
vor allem bei seinem "Lästerer" und Edeldomestiken Udo Bölts. "Was
die Mannschaft und Udo für mich getan haben, ist mit Geschenken gar
nicht aufzuwiegen."
Was ist das für ein Kerl, dieser Udo Bölts. Ohne den über sich
hinauswachsenden Pfälzer, der noch vor der Tour die Dauphine Liberé
gewann, wäre Jan Ullrich sein Gelbes Trikot, das er mit einem
Husarenritt am 15. Juli in Andorra erobert hatte, wahrscheinlich
schon wieder los. Dabei stand Udo Bölts nach seinem schweren Sturz
auf der dritten Etappe nach Plumelec wegen höllischer Schmerzen am
Oberschenkel und im Kreuz beim Anstieg in Andorra kurz vor der
Aufgabe. Aber er kämpfte sich durch, die Schmerzen wurden durch
Akupunktur gelindert, und am "Heiligen Berg" von Alpe-d`Huez fuhr
der Heltersberger auf einen tollen 7. Platz (Ullrich wurde Zweiter).
Und dann schlug die ganz große Zeit der Ullrich-Lokomotive Udo
Bölts.
Husarenritt Nr. 1, Etappe nach Courchevel:Ullrich hatte auf
seinen schärfsten Widersacher Richard Virenque am Gladon den
Anschluß verloren. Bölts organisierte darauf am Col de la Madeleine
die Verfolgung und führte Ullrich zusammen mit Bjarne Riis wieder
ran.
Husarenritt Nr. 2, Etappe nach Morzine: Wieder attackierte die
Virenque-Truppe Festina gnadenlos. Bölts reagierte, fuhr das
Festina-Team auseinander und verzichtete nach demKraftakt
uneigennützig auf einen möglichen eigenen Etappensieg.
Husarenritt Nr. 3, Etappe nach Montbéliard: Der durch eine
verheimlichte Bronchitis geschwächte Ullrich verlor am Col du
Hundsruck in den Vogesen den Anschluß an Virenque. Bölts fuhr
Ullrich nach bedrohlicher Situation in kämpferischer Manier wieder
heran und rettete dem neuen deutschen Sporthelden das Gelbe Trikot.
Für diese sensationelle Leistung bekam Bölts nicht nur das Lob
von Ullrich, sondern auch von den zehn Teamchefs, darunter
Festina-Sportdirektor Bruno Roussel: "Udo, du hättest dafür sogar
das Gelbe Trikot verdient." Die Gratulationen auch anderer Fahrer
haben Bölts wieder aufgerichtet. "Ich war schon etwas deprimiert,
daß ich an der Strecke nur lesen konnte ,Danke, Bjarne`", spielte er
auf den Teamkollegen Riis an. "Mich übersieht man wohl immer."
[EXPRESS]

[Tour de France
1997]
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